Wallfahrtskirche Maria Straßengel bei Graz: Der Kirchturm und seine Symbolik
Der Straßengler Turm ist mit seinem durchbrochenen Maßwerkhelm mit den lebensgroßen Steinfiguren und seiner figürlichen Bauplastik eine der bemerkenswertesten gotischen Turmkonzeptionen Österreichs.
Der Turm symbolisiert z.B. Altes und Neues Testament in Gegenüberstellung. Die Turmstatuen – Maria mit sieben Engeln aus der Apokalypse – offenbaren Maria als das vom Himmel herabgestiegene neue Jerusalem. Von hier stammt die Herleitung des Namens Maria Straßengel.
Die nach Südosten orientierte Wallfahrtskirche wird akzentuiert durch den über dem Nordostchor aufsteigenden Turm, der sich vor allem durch seine baukünstlerische und technisch bemerkenswerte Leistung eines durchbrochenen Steinhelmes auszeichnet.
Der aus Kalktuff-Werksteinen gefügte, achteckige Turm weist von der Dachtraufe bis zur Spitze eine Höhe von 33,5 Meter auf und misst vom Bodenniveau 48 Meter. Die bekrönende, drei Meter hohe Kreuzblume wurde 1868/70 angefertigt. Der Turmunterbau steigt über dem Nordchor empor. Eckige und runde Pfeilervorlagen gliedern die Kanten des Turmkörpers, der durch Traufgesimse in drei Geschoße geteilt ist.
Das erste Turmgeschoß, dessen Wände in spitzbogige Blendarkaden mit Dreipassmaßwerk aufgelöst sind, wird von Pfeilern eingefasst, die an der Nordostecke von drei Konsolenköpfen gestützt werden (von Ost nach Nord): Männlicher Kopf, Kopf einer alten Frau mit Haube und Kopf einer jungen Frau mit einem Stirnreif, der ein Kreuz trägt. Diese beiden Frauenköpfe könnten als Synagoge (Alter Bund) und Ecclesia (Neuer Bund) zu deuten sein, während der Männerkopf einen Werk- oder Baumeister darstellen dürfte. Das zweite Turmgeschoß ist durch Blendarkaden in drei Schichten gestaffelt, die an den Sichtseiten in Konsolenköpfen enden.Offenbar handelt es sich um die Wiedergabe der Bauherren und Stifter (von Ost nach Nord):
- Kopf einer Frau und Kopf eines bärtigen Mannes mit dem Markgrafenhut; darunter Kopf eines Mönchs. Der schrägliegende, reliefierte Wappenschild zeigt den Steirischen Panther bzw. das Traungauer Wappen. Vermutlich ist an dieser dem Hauptchor zugewandten Seite der ehemalige Landesherr, der Traungauer Markgraf Otakar III. (l129–1164) von Steiermark – der Begründer des Wallfahrtsortes Maria Straßengel und legendärer Stifter des Mariengnadenbildes – sowie seine Gemahlin Kunigunde dargestellt; der Ordensangehörige könnte Abt Gerlach von Rein (1130–1164) sein, der die erste Marienkapelle errichten ließ.
- Männlicher Kopf mit geöffnetem Visier und weiblicher Kopf mit Kruseler-Haube; darunter ein männlicher Kopf mit einem Stirnreif (vielleicht der Habsburgerheilige Morandus). Aufgrund des Wappens – es zeigt den österreichischen Bindenschild – kann man annehmen, dass hier das Ehepaar Herzog Rudolf IV. und Katharina von Böhmen dargestellt ist. Über dem Wappen ein Stechhelm mit wallender Sendelbinde, Blattkrone und Pfauenstoß. Der am Übergang zum Turmhelm angebrachte Fisch-Wasserspeier dürfte eine Anspielung auf das Wappentier der Mutter des Herzogs, Johanna von Pfirt, sein. Eine Darstellung Rudolfs IV. ist deshalb naheliegend, weil damit nicht nur seine Stiftertätigkeit gegenüber der Straßengler Kirche, sondern auch seine Verbindung zum Land Steiermark und dem Zisterzienserkloster Rein verdeutlicht wird.
- Zwei Mönche, unterhalb ein Löwenkopf. Vermutlich sind es die Reiner Äbte Hertwig, der den Grundstein zum gotischen Neubau legte, und Seyfried, unter dem die Kirche vollendet und geweiht wurde. Das reliefierte „R“ des schräggestellten Wappenschildes ist als heraldischer Hinweis auf das Stift Rein (lat. „runa“) anzusehen.
- Zwei Mönche, darunter ein Hundekopf. Wahrscheinlich sind hier die beiden schon erwähnten Brüder Marcus und Johannes Zeyricker dargestellt, die für den Kirchenbau eine reiche Stiftung widmeten.
- Zwei Mönche oder Werkleute bzw. Steinmetzen des Kirchenbaus; unterhalb ein Tierkopf mit Hauern.
- Ein männlicher und ein weiblicher Kopf, darunter der Kopf eines Mannes (die Köpfe sind durch die barocken Anbauten nicht sichtbar). Die Dargestellten könnten Vertreter der Stände und des Bürgertums sein, die mit ihren Geldspenden zum Bau der Kirche und deren Ausstattung beitrugen.
Das dritte Turmgeschoß ist in hohen zweibahnigen Spitzbogenfenstern allseitig geöffnet. Über den Fenstern sind gleich einer Zackenkrone Wimperge mit Maßwerkzier und einer großen Kreuzblume angebracht. Zwischen den Wimpergen aufsteigende Rundsäulen tragen auf ihren Blattkapitellen acht lebensgroße Steinfiguren – Maria und die sieben Engel aus der Geheimen Offenbarung (Apokalypse) des Evangelisten Johannes. Von vier Statuen wurden Kopien durch die Bildhauer H. SCHAGGL und R. WENDLER angefertigt (die Originale sind derzeit in der Friedrichskapelle aufgestellt).
Die vierte Turmzone, der 17 Meter hohe, mit Maßwerk durchbrochene Steinhelm, ist über achtseitigem Grundriss errichtet. Sein Ansatz wird durch acht tiergestaltige Wasserspeier – sechs hunde- bzw. löwenartige, ein geflügelter Drache und ein Fisch – gekennzeichnet. (Fünf Wasserspeier wurden anläßlich der Turmrestaurierung in den Jahren 1962/63 in freier Nachschöpfung neu angefertigt.)
Würdigung
Der Straßengler Turm ist mit seinem durchbrochenen Maßwerkhelm mit den lebensgroßen Steinfiguren und der figürlichen Bauplastik einer der bemerkenswertesten gotischen Turmkonzeptionen in Österreich. Vorbilder waren Turmgestaltungen der Wiener Bauhütte (z. B. Südturm des Stephansdomes, 1359/1453; Chordachreiter der Kartause von Gaming, 1332/1342). Als vorbildhaft ist auch der durchbrochene Maßwerkhelm des 1300 bis 1350 errichteten Hauptturmes des Münsters in Freiburg im Breisgau anzusehen.
Die Symbolik des Straßengler Turmes – an dem die massiven Wände den irdischen Bereich und der durchbrochene Maßwerkhelm die Himmelssphäre darstellen – ist vielschichtig. Am Turmkörper wird mittels Wappen und Konsolenköpfen auf die Bauherren und Stifter hin-gewiesen. Die Gegenüberstellung von Synagoge und Ecclesia am Turmansatz symbolisiert das Alte und das Neue Testament, womit die Erfüllung der Verheißung des Alten durch das Neue Testament angedeutet werden soll. Die tiergestaltigen Wasserspeier haben apotropäische, Unheil abwehrende Bedeutung, sie sollen das Böse und das Dämonische bannen.
In der Anordnung der acht Turmstatuen – Maria mit den sieben Engeln aus der Apokalypse – ist eine symbolische Bezogenheit auf Maria mit der Idee der Civitas Dei, der Gottesstadt, gegeben, wie dies bereits am Turmhelm des Freiburger Münsters mit den vier tubablasenden Engeln vorliegt. Sowohl in der Geheimen Offenbarung (Apg 21,2) als auch in der zisterziensischen Mystik wird Maria als das vom Himmel herabgestiegene neue Jerusalem angesehen. Die Statuenfolge von Maria und den sieben Engeln hat eben-falls die Apokalypse zur Grundlage (Apg 8,2), der zufolge der siebente Engel in die Posaune bläst, um Maria anzukündigen (Apg 11,15 ff.). Zugleich ergab sich mit dieser Wiedergabe eine willkommene Herleitung des Namens Maria Straßengel.